Bowen, York (1884–1961)

Phantasy Quintet op. 93 (1933–1936)

für Baßklarinette und Streichquartett

Allegro moderato – Poco più mosso – Poco animato – Poco sostenuto, e a piacere – Allegro con spirito, ma non troppo – Allegro moderato – Più sostenuto, tranquillo

Erst in jüngerer Zeit scheint sich die Musikwelt wieder eines lange scheinbar so gut wie vergessenen Komponisten und dessen meisterlicher Kunst zu erinnern und wieder bewußt zu werden, was sicher nicht zuletzt auch durch das Buch York Bowen – A Centenary Tribute von Monica Watson aus dem Jahre 1984 und eine in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmende Anzahl qualitativ hochwertiger Aufnahmen seiner Werke – unter denen sich eine Reihe von Kompositionen befinden, welche faszinierenden (Wieder-) Entdeckungen gleichen – bestärkt wurde und weiterhin wird. Der zu seiner Zeit von vielen the English Rachmaninoff genannte als Edwin Yorke Bowen (1884–1961) in London geborene York Bowen war nicht nur ein überaus phantasiebegabter und schaffensreicher Komponist, sondern auch ein erstrangiger Klaviervirtuose, dem wir unter anderem die erste Schallplattenaufnahme des vierten Klavierkonzertes op. 58 von Ludwig van Beethoven (1770–1827) zu verdanken haben. Nach erstem Klavierunterricht bei seiner Mutter und darauffolgend am North Metropolitan College of Music folgten Studien bei Alfred Izard am Blackheath Conservatoire. Von 1898 bis 1905 studierte er an der Royal Academy of Music Klavier bei Tobias Augustus Matthay (1858–1945) und Komposition bei Frederick Corder (1852–1932). Des Weiteren bekam er auch Bratschen-, Horn- und Orgelunterricht.

 

Bowens umfangreiches bis zu der Opuszahl 160 zählendes kompositorisches Œvre umfaßt neben zahlreichen Vokalwerken unter anderem vier Sinfonien (wobei die dritte Sinfonie bis jetzt leider als verschollen gilt und die vierte Sinfonie nur als Particell existiert), Ouvertüren, Suiten und Solokonzerte, unter denen sich auch vier Klavierkonzerte befinden. Weiterhin schuf er etliche Solowerke für Klavier, worunter sich auch seine mit der Widmung »To Kaikhosru Shapurji Sorabji, 1950« versehenen Twenty-Four Preludes in All Major and Minor Keys op. 102 – eine seiner bedeutendsten Kompositionen – befinden. Der als Leon Dudley Sorabji geborene englische Komponist, Musikkritiker, Pianist und Schriftsteller Kaikhosru Shapurji Sorabji (1892–1988), Schöpfer des unglaublichen Opus clavicembalisticum von 1929/30, schreibt in seinem 1947 in London publizierten Buch Mi Contra Fa: The Immoralisings of a Machiavellian Musician im Kapitel XXIX A Note on York Bowen über Bowens kompositorische Qualitäten bezüglich seiner Klaviermusik, insonderheit dessen Preludes:

»York Bowen is, at the present time, the one English composer whose work can justly be said to be that of a great Master of the instrument, as Rachmaninoff was or as Medtner is. […] In this work, I have no hesitation in declaring my conviction, is not only the finest English piano music written in our time, but the finest writing pianistically considered, and here furthermore is, I believe, the first and only great English master of the instrument. With York Bowen we are in the great tradition of piano writing, the tradition to which, for all their individual and idiosyncratic differences, men such as Ravel, Rachmaninoff, Medtner belong. York Bowen is master of every kind of piano writing, which, great artist that he is, he uses not to the ends of a trumpery and empty virtuoso affichage, but to the purposes of the powerful brilliant glowing and rich expression of a very individual beautiful and interesting musical thought. Inexhaustible pianistic invention, endlessly fascinating and imaginative harmonic subtlety and raffinement, a musical substance elevated and distinguished, a perfection and finely poised judgment, combined to produce an æsthetic experience as rare and delightful as it was exciting.«

Mit dieser hohen Wertschätzung stand Sorabji gewiß nicht alleine da und sein Urteil, welches sich hier zwar auf Bowens Preludes bezieht, läßt sich doch zu einem großen Teil auch auf dessen einsätziges Phantasy Quintet for Bass Clarinet and String Quartet op. 93, beziehen. Dieses in der Zeit zwischen 1933–1936 entstandene, in einem spätromantischen Tonfall mit impressionistischen Anklängen und ABA-Form gehaltene ausdrucksstarke Werk mit dieser sehr selten anzutreffenden Besetzung erschien um das Jahr 1940 in dem im Jahre 1909 von Meyer de Wolfe (1887–1964) gegründeten Londoner Musikverlag De Wolfe Music.

 

Bowen, der also in kompositorischer Hinsicht einen traditionellen Stil mit modernen Elementen pflegte, wollte in musikalischer Hinsicht dennoch nicht als Romantiker gelten. Nichtsdestotrotz sah er in der Schönheit von Musik eine zeitlose Größe, wie wir, zitiert bei Donald Brook in Composers’ Gallery: Biographical Sketches of Contemporary Composers (1946 in London bei Rockliff erschienen) auf Seite 37 lesen können:

»Throughout my career I have endeavoured to appreciate the beauty of other people’s music all the more because I am a composer myself, and I have no use for the arguments of people who try to excuse ugly music on the grounds that it expresses the ugly age in which we are living at the present time. If modern life is ugly, then there is all the more reason why music should bring beauty into it.«

 

Die Komposition des Werkes ist, was Entstehung, Anlage und Titel angeht, wohl auch in Verbindung mit einer beachtlichen Reihe weiterer Phantasy-Kompositionen Bowens und zahlreicher anderer Komponisten zu sehen, welche im Rahmen des von dem Geschäftsmann, Amateurgeigers und Förderers der Kammermusik Walter Willson Cobbett (1847–1937) initiierten Cobbett Wettbewerbes, entstanden sind. Als Rahmen für die einzureichenden Arbeiten formulierte Cobbett folgende Bedingungen: The parts must be of equal importance, and the duration of the piece should not exceed twelve minutes. Though the Phantasy is to be performed without a break, it may consist of different sections varying in tempi and rhythm. Wichtig war ihm auch, das in jedem Titel das Wort Phantasy – in dieser Schreibweise – verwandt wurde. Über den zwischen 1905 und 1919 alle paar Jahre insgesamt fünf mal stattfindenden Wettbewerb, gab Cobbett auch Werke in Auftrag. In folgender Sentenz einer 1911 am Royal College of Music gehaltenen Ansprache legte er seine Gedanken dar, welche ihn dazu bewogen haben, die Entstehung von vor allem einsätzigen Kammermusikwerken zu unterstützen:

»I reflected that in literature there are the lyric and epic poem, the short story and the long novel; in the orchestra, besides the symphony, the overture and the symphonic poem; but that in chamber music there is only one form that counts […] and I concluded that a new type suited to the needs of the chamber music composer was needed.«

Die im selben Jahr entstandene Phantasie [sic!]  for Violin and Piano op. 34 von Bowen ist eines davon und gehört mit der Phantasy in F Major op. 54 for Viola and Piano von 1918 – für die er auch ausgezeichnet wurde – zu mehreren Werken des Komponisten, die die Phantasie nicht nur im Titel tragen.

 

An dieser Stelle sei auf eine große Traditionslinie verwiesen, an welche in gewisser Hinsicht die Entstehung von Bowens Phantasy Quintet anknüpft. In England gab es in der Zeit zwischen Mitte des 16. bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts (als das Gambenconsort schließlich aus der Mode kam) die ganz eigene Tradition der sogenannten In nomine-Kompositionen. Inspiriert durch das vierstimmige In nomine Domini im Benedictus der eigentlich sechstimmigen Missa Gloria tibi Trinitas von John Taverner (um 1490–1545) stand die anonyme Bearbeitung des filigranen Meisterwerkes für Gambenconsort am Beginn einer langen Reihe von In nomine-Kompositionen, die eine Sonderform der sehr verbreiteten fancies oder fantasies, welche ohnehin sehr beliebt waren, darstellten. Mit seinem Einsatz für die Entstehung neuer Phantasy Kompositionen fand dieses Genre im 20. Jahrhundert in Cobbett einen emphathischen Fürsprecher, welcher die naïvetés of construction and tonality der alten Werke so schätzte und die so entstehenden neuen als Beitrag zu einem modern and distinctively national genre verstand. Cobbetts Vorstellung einer modernen Phantasy-Komposition kam wohl der von ihm 1912 beauftragte und sich ebenfalls mit der Renaissance-Musik beschäftigende Ralph Vaughan Williams (1872–1958) mit seinem dann 1914 uraufgeführten Phantasy Quintet for two Violins, two Violas and Violoncello am nächsten: »[…] each coming to a definite close, though designed to follow on without appreciable pause […] so exactly the Phantasy as I conceived it that it may well serve as a prototype to those who care to write in this form in the future«, so Cobbett.

 

Obwohl ein genaues Datum einer Uraufführung von Bowens Phantasy Quintet nicht überliefert ist, wird angenommen, daß es sich bei einer im Besitz des Komponisten gefundenen frühen Aufnahme des Werkes  durch Walter Lear (1894–1981) in einer Sendung des am 29. September 1946 gestarteten BBC Third Programme um die erste Aufführung handeln könnte. Die Aufnahme befindet sich heute in der Royal Academy of Music library. Den Klarinettenpart hatte bei dieser Aufführung möglicherweise die nach ihrer Hochzeit im Jahre 1948 nicht mehr öffentlich auftretende Pauline Juler (1914–2003) übernommen, welcher Bowen schon seine für Klarinette und Klavier komponierte Clarinet Sonata in F minor op. 109 aus dem Jahre 1943 gewidmet hatte.

(2018)