Robert Schumann (1810–1856) vertonte insgesamt 22 Gedichte von Justinus Andreas Christian Kerner (1786–1862). Die ersten fünf Lieder zu Texten des schwäbischen Dichters, Arztes und medizinischen Schriftstellers, welcher ab 1850 von Kerner hieß, komponierte Schumann im Juni und Juli 1828. Damit gehören sie zu den frühesten Liedvertonungen des Komponisten überhaupt. Am 15. Juli 1828 in einem in Zwickau entstandenen Entwurf zu einem Brief, welchen er kurz darauf an den Komponisten und Kapellmeister Gottlob Wiedebein (1779–1854) schickte, schreibt der junge Schumann in sein Tagebuch: »Kerner’s Gedichte, die mich durch jene geheimnißvolle, überirdische Kraft, die man oft in d. Dichtungen Göthe’s und Jean Paul’s findet, am meisten anzogen, brachten mich zuerst auf den Gedanken, meine schwachen Kräfte zuerst zu versuchen, weil in diesen [Gedichten] schon jedes Wort ein Sphärenton ist, der erst durch die Note bestimmt werden muß.«
Zwölf Jahre später, im Mai 1840, bat Robert Schumann seine Verlobte Clara Josephine Wieck (1819–1896), ihm auf der Suche nach Gedichten von Kerner und Heinrich Wilhelm August Stieglitz (1801–1849), einem deutschen Philologen und Lyriker, behilflich zu sein. Daraufhin kopierte sie ihm in Berlin – neben nur einem Gedicht von Stieglitz – insgesamt 19 Gedichte Kerners, welche sie selbst wohl auch sehr mochte. Clara, welche ihrerseits auch schon 1831 gemeinsam mit ihrem Vater, dem Musiker und Musikpädagogen Johann Gottlob Friedrich Wieck (1785–1873) Lieder nach Gedichten Kerners vertonte, übergab Robert diese Abschriften sicherlich bei ihrem Besuch in Leipzig am 6. Juni 1840.
Nachdem 1826 in der J. G. Cotta’sche[n] Buchhandlung eine Ausgabe der G e d i c h t e | von | Justinus Kerner. erschien, folgte 1834 im selben Verlag die zweite Auflage unter dem Titel Die Dichtungen | von | Justinus Kerner. | Neue vollständige Sammlung | in | einem Bande., welche Schumann letztlich als Vorlage für seine Vertonungen diente und von der er mittlerweile auch ein Exemplar besaß, als er im November 1840 begann, nach seinen »Jugendliedern« wieder Gedichte von Kerner zu vertonen. Aus der Abteilung I. | Lyrische Dichtungen. dieses Bandes stammen alle Gedichte, die Schumann für seine Kompositionen auswählte. In nur zwei Monaten – von November bis Dezember 1840 – entstanden in drei Phasen 14 Lieder nach Gedichten Kerners, von denen außer Sängers Trost (1854 in Fünf Lieder und Gesänge op. 127, Nr. 1 veröffentlicht) und Trost im Gesang (1858 veröffentlicht in Vier Gesänge, op. 142, Nr. 1) Aufnahme in die schließlich von Schumann so bezeichnete Liederreihe fanden.
Clara notiert am 22. November 1840 im gemeinsamen Ehetagebuch: »Robert hat wieder 3 herrliche Lieder componiert. Die Texte sind von Justinus Kerner: ,Lust der Sturmnacht‘, ,Stirb, Lieb’ und Freud’!‘ und ,Trost im Gesang‘. Er faßt die Texte so schön auf, so tief ergreift er sie, wie ich es bei keinem anderen Componisten kenne, es hat keiner das Gemüth wie Er. Ach! Robert, wenn Du manchmal wüsstest, wie Du mich beglückst – unbeschreiblich!« Roberts Eintrag im Ehetagebuch bezüglich der Woche vom 22. bis 29. November 1840 lautet: »Eine stille Woche, die unter Componiren und viel Herzen und Küssen verging. Mein Weib ist die Liebe, Gefälligkeit und Anspruchslosigkeit selbst. […] Gesundheit und Kräfte kommen ihr auch wieder nach u. nach und der Flügel wird öfter aufgemacht. […] Ein kleiner Cyklus Kerner’scher Gedichte ist fertig; Kläre hat Freude daran gehabt, auch Schmerzen; denn sie muß meine Lieder so oft durch Stillschweigen und Unsichtbarkeit erkaufen. So geht es nun in Künstlerehen, und wenn man sich liebt, immer noch gut genug. […] Wie freu ich mich darauf, auf das erste Liedchen und Wiegenlied. Pst!«
1841 ordnete Schumann in einem späteren Überarbeitungsstadium kurz vor der Drucklegung diese zwölf Lieder in 2 Abteilungen zu je 5 (Lust der Sturmnacht, „Stirb, Lieb' und Freud'!“, Wanderlied, Erstes Grün [bei Kerner unter dem Titel Frühlingskur erschienen], Sehnsucht nach der Waldgegend) und sieben Liedern (Auf das Trinkglas eines verstorbenen Freundes, Wanderung, Stille Liebe, Frage, Stille Tränen, „Wer machte dich so krank?“, Alte Laute) an.
Im Mai 1841 schließlich erschien die Sammlung der Kerner-Lieder als Schumanns Opus 35 beim Verlag C. A. Klemm in Leipzig, welchem Schumann den Zyklus bereits am 29. Dezember 1840 angeboten hatte, unter dem Titel Zwölf Gedichte | von | Justinus Kerner. | Eine Liederreihe | für eine Singstimme | mit Begleitung des Pianoforte und mit der Widmung »Herrn Dr. Friedrich Weber in London freundschaftlichst zugeeignet« versehen in einer Ausgabe zu zwei Heften. Friedrich Weber (1808–1886) studierte ab 1827 in Heidelberg Philosophie und arbeitete als praktischer Arzt seit 1837 in London. Hofmeister’s Musikalisch-literarischer Monatsbericht neuer Musikalien, musikalischer Schriften und Abbildungen Nr. 7 vom Juli 1841 führt diese Neuerscheinung im Abschnitt Gesänge für eine Stimme mit Begleitung des Pianoforte. auf Seite 111 nicht mit der Nennung der Liedtitel, sondern der Liedanfänge auf. Eine »Zweite Auflage.« gab C. A. Klemm 1844 heraus.
In der Folgezeit ab 1849 erschienen Einzelausgaben der Lieder, Arrangements für Klavier (1859 von August Pohl) und Ausgaben für Sopran und Alt (1863).
1885 erschien diese Liederreihe in der Ausgabe Robert Schumann’s Werke. | Herausgegeben von Clara Schumann. | Serie XIII. | Für eine Singstimme mit Begleitung | des Pianoforte. | No124. | Zwölf Gedichte | von Justinus Kerner. | Op. 35. bei Breitkopf & Härtel in Leipzig.
Komponiert nach seiner Hochzeit mit Clara (am 12. September 1840 in der Leipziger Gedächtniskirche Schönefeld), gehörte die Liederreihe nach Kerner zu den insgesamt 138 Liedkompositionen, die Schumann im selben Jahr schuf. 1840 ist deshalb auch als sein »Liederjahr« – in welchem so bedeutende Liederzyklen wie Dichterliebe op. 48, Frauenliebe und -leben op. 42, der Liederkreis op. 24 nach Heine und der Liederkreis op. 39 nach Eichendorff entstanden – in die Musikgeschichte eingegangen. Seinen Liederkreis Myrthen op. 25 aus dem selben Jahr widmete Schumann »Seiner geliebten Braut.«.
Lust der Sturmnacht op. 35/1 vertonte Schumann am 20. November 1840. Heißt es bei Kerner am Anfang des Gedichtes noch »Wann durch Berg’ und Thale draußen«, so änderte Schumann den Text hier in »Wenn durch Berg’ …«. Endet in der dritten Strophe der Kerner-Text mit den Worten »Wölklein ziehen, Vögel singen«, heißt es nun im Lied »Wölklein ziehn und Vöglein singen«. Auf geringfügige Abweichungen des Textes der Gedichtausgaben von 1826 und 1834 sei an dieser Stelle nur hingewiesen. Steht dieses Lied im Autograph noch in G-Dur, erscheint es schließlich in der Druckausgabe von Schumann nach Es-Dur transponiert. Somit stehen nunmehr alle 1840 entstandenen Kerner-Lieder – außer dem in C-Dur komponierten Stille Tränen – in Be-Tonarten.
„Stirb, Lieb und Freud!“ op. 35/2 entstand am 22. November 1840. In der ersten Strophe ändert Schumann Kerners Worte »Da tritt an hellem Morgen« in »Da tritt am hellen Morgen«. In der vierten Strophe heißt es im Lied »Mit Staunen schauen« anstelle »Mit Staunen sehen« bei Kerner. In der letzten Strophe schließlich steigert Schumann Kerners »Es ist die Allerliebste mein« zu »Es ist die Herzallerliebste mein«. Im Gegensatz zum Autograph, welcher auch insgesamt ein recht frühes Kompositionsstadium der Kerner-Lieder darstellt, enthält die Ausgabe bei Klemm dann den Hinweis »Tenor vorzugsweise.« – In der dritten Auflage (1841) der Gedichte Kerners wurde das in der 3. Strophe stehende »Am Haupte« in »Auf dem Haupte« umgeändert.
Das Wanderlied op. 35/3, komponiert am 29. Dezember 1840, stellt somit das zuletzt entstandene Werk dieser Liederreihe dar und sollte bald zu einem der beliebtesten Lieder Schumanns avancieren. In der letzten Strophe heißt es bei Kerner »Die Blumen einst pflanzt’ er« und im Lied wird daraus »Die Blumen, die pflanzt er«. In der selben Strophe finden wir die Worte »Und Liebe, die folgt ihm | Sie geht ihm zur Hand«, welche mit dem Kopfmotiv des sechsten Liedes Süßer Freund aus Frauenliebe und -leben op. 42 erklingt; ein Lied, welches die Schwangerschaft thematisiert, was für Schumann hier besonders bedeutungsvoll ist, da Clara ihm wenige Tage zuvor eröffnet hatte, daß sie schwanger sei. Das Lied schließt anders als bei Kerner mit der Wiederholung der ersten Strophe. Justinus Kerner, einer der Hauptvertreter der Schwäbische[n] Dichterschule (1805–1808) und des Seracher Dichterkreis[es] (ab 1831), verfaßte dieses Gedicht – wie er Johann Ludwig Uhland (1787–1862) im März 1809 mitteilt – auf dem Heimweg von Tübingen nach Ludwigsburg in einem Wirtshaus in Echterdingen im Dezember 1808, nachdem er seine Doktorwürde erhalten hatte. Eine Bearbeitung dieses Liedes zusammen mit Wanderung für Männerchor von Friedrich Wilhelm Tschirch (1818–1892), welcher auch unter dem Pseudonym Alexander Czersky bekannt ist, erschien 1866.
Das Lied Stille Tränen op. 35/10 entstand am 7. Dezember 1840 und wurde bereits in einem Vorabdruck – welcher auch die Besetzungsangabe »Tenor« enthält – in der Musikbeilage der Neue[n] Zeitschrift für Musik in Heft 13 auf den Seiten 13 bis 15 zusammen mit einem Hinweis auf die bei Klemm erschienene Liederreihe am 7. Mai 1840 veröffentlicht. Im Autograph ist die Besetzungsangabe für dieses Lied noch mit »Sopran od. Tenor.« bezeichnet. Wie bei Lust der Sturmnacht gibt es auch bei diesem Gedicht kleine Textunterschiede in den Gedichtausgaben von 1826 und 1834.
Über eine Reaktion Kerners auf Schumanns Vertonungen seiner Gedichte wie auch eine Begegnung beider ist nichts bekannt. 1849 schließlich wird Schumann mit drei weiteren Gedichten von Kerner seine letzten Lieder nach den Worten des von ihm so geschätzten Dichters der Welt schenken.
(2017/2019)