Richard Georg Strauss (1864–1949) schuf in den fast acht Jahrzehnten seit seiner ersten Liedkomposition von 1870 bis in das Jahr 1948 weit über 200 Lieder, wobei bedauerlicherweise der Verbleib von 15 frühen Liedern nicht geklärt ist. Von etlichen der für Singstimme und Klavierbegleitung entstandenen Werke fertigte Strauss später Orchesterfassungen an. Viele Lieder entstanden auch original in letztgenannter Besetzung, wie etwa die Vier letzte[n] Lieder aus dem Jahre 1948, welche mit zu seinen bedeutendsten Kompositionen zählen.
Den hohen Stellenwert, den das Lied im Schaffen von Strauss einnahm, vermag folgende Passage aus der Autobiographie des großen Baßbaritons Hans Hotter (1909–2003) näher zu beleuchten: »Man muß allerdings wissen, daß Strauss oft sehr impulsiv war und aus einer momentanen Stimmung heraus Dinge sagte, die man nicht immer so ganz wörtlich nehmen durfte. Als ich einmal […] das Glück hatte, mit ihm an einigen seiner Lieder zu arbeiten, sprach er so, wie es seine Art war, beinahe nur für sich, vor sich hin: »Eigentlich sind mir die Lieder das Liebste von allem, was ich geschrieben habe.« Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das eine endgültige Festlegung war. Geklungen hat es schon ernsthaft.« (Hans Hotter, „Der Mai war mir gewogen …“, Erinnerungen, Verlag Kindler, München 1996, S. 123).
1887 erschienen im Joseph Aibl Verlag in München die Acht Gedichte aus „Letzte Blätter“ von Hermann Gilm für hohe Singstimme mit Pianofortebegleitung op. 10, Nr. 3. Auf die beiden Lieder Zueignung (im Original ohne Titel, welcher dem Gedicht im Nachhinein von Strauss verliehen wurde, entstammt es als Einziges der Sammlung Im Frühling) und Nichts folgt als drittes Lied Die Nacht. Fortgesetzt mit Die Georgine, Geduld, Die Verschwiegenen und Die Zeitlose beschließt Allerseelen dieses Opus. Die letzten Blätter entstammen einer 1864 posthum in Wien erschienenen Sammlung von Gedichten des Tiroler Dichters Hermann Gilm von Rosenegg, auch: Hermann von Gilm zu Rosenegg (1812–1864). Der mit Strauss befreundete Komponist Ludwig Thuille (1861–1907) brachte einen Gedichtband dieser Ausgabe aus Innsbruck mit und machte Strauss 1882 so mit Gilms Gedichten bekannt. Von Thuille existiert ebenfalls eine Vertonung des Gedichtes Die Nacht, op. 12, Nr. 2 aus dem Jahre 1898. Strauss vertonte dieses Gedicht am 11. August 1885 in Steinach und widmete es – wie alle Lieder seines op. 10 – dem bedeutenden Heldentenor und gefragten Liedsänger, dem Königlich Bayrischen Kammersänger Heinrich Vogl (1845–1900). Selbst betrachtete er diese Lieder als »ausgesprochene Tenorstücke«. Einige kleine Textunterschiede sollen nicht unerwähnt bleiben: Statt wie im Original »An den Bäumen« und »im weiten Kreise« heißt es bei Strauss »Aus den Bäumen« und »in weitem Kreise«. Die Wörter »Stromes« und »Domes« werden bei Strauss zu »Stroms« und »Doms« verkürzt.
Am 2. Juni 1898 vertonte Strauss das Gedicht Befreit, welches 1895 in Lebensblätter. Gedichte und Anderes von Richard Fedor Leopold Dehmel (1863–1920) erschien und zum Liedzyklus der Fünf Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung op. 39 Nr. 4 gehört. Befreit folgt auf Leises Lied, Jung Hexenlied und Der Arbeitsmann. Mit Lied an meinen Sohn schließt der Zyklus, welcher »Herrn Dr. Fritz Sieger freundschaftlichst gewidmet« ist und 1898 im Robert Forberg Musikverlag in Leipzig erschien. Dehmel versah das Gedicht ebenfalls mit einer Widmung: »Meiner Frau zum Geburtstag«. Den Gedichttext »so geb’ ich dich der Welt zurück« änderte Strauss in »so gab’ ich dich der Welt zurück«. Eine Orchesterfassung fertigte Strauss am 10. September 1933 in Bad Wiessee an.
Eine der wohl inspiriertesten Liedkompositionen von Strauss ist Morgen! aus Vier Lieder für hohe Singstimme mit Pianofortebegleitung op. 27 Nr. 4, welche 1894 im Joseph Aibl Verlag in München erschienen. Nach Ruhe, meine Seele!, Cäcilie und Heimliche Aufforderung bildet Morgen! den Abschluß dieses Liederzyklus. Der Dichter, ein Vertreter des Individualistischen Anarchismus, ist John Henry Mackay (1864–1933), welcher auch unter dem Pseudonym Sagitta bekannt ist. Morgen!… [sic!] erschien 1890 im Gedichtband Das starke Jahr. Der „Dichtungen“ zweite Folge und wurde von Strauss, welcher Mackay in Berlin traf, am 21. Mai 1894 in Weimar vertont. Als eines der schönsten komponierten Hochzeitsgeschenke seit Robert Schumanns Liederkreis Myrthen op. 25 versah Richard Strauss seine Vier Lieder op. 27 mit der Widmung »Meiner geliebten Pauline zum 10. September 1894 als Morgengabe«.
In Marquartstein fand die Hochzeit statt und auch dort fertigte Strauss am 20. September 1897 die Orchesterfassung an, auf welche die Instrumentierung mit Solovioline zurückgeht. Mit seiner Frau Pauline Maria Strauss-de Ahna (1863–1950) gab Strauss viele Konzerte und schätzte sie ausserordentlich als hervorragende Interpretin seiner Lieder.
(2016)