Der in Edinburgh lebende Volksliedsammler und Herausgeber George Thomson (1757–1851) fragte am 1. Juli 1806 bei Ludwig van Beethoven (1770–1827), welcher den Musikliebhaber schottischer Herkunft nie persönlich kennenlernte, an, ob er daran interessiert wäre, schottische – später auch irische und walisische – Melodien zu instrumentieren. Während der seit 1803 nachweisbaren Zusammenarbeit und geschäftlichen Verbindung, welche bis 1820 andauerte, entstanden ca. 170 Bearbeitungen für Thomson.
In einem Brief vom 20. März 1815 schrieb dieser (auf Französisch) an Beethoven: »Nennen Sie mich nicht ›Musikalienhändler‹. Ich bin Liebhaber und verkaufe nur meine airs nationaux, was ich en gros tue.«
Der Ausdruck Airs nationaux läßt sich so nicht ins Deutsche übertragen und beschreibt eine typische Eigenheit der schottischen Überlieferung von Liedern: nämlich, nicht wie auf dem Kontinent üblich mündlich, sondern zum größten Teil schriftlich unter Angabe der Quelle und dem Warum der eigenen Bearbeitung des Textes und/oder der Melodie durch den jeweiligen Autor. Diese Praxis ist seit Mitte des 17. Jahrhunderts nachgewiesen und war mit großer Selbstverständlichkeit durch alle Gesellschaftsschichten hindurch üblich.
Aufgrund der zahlreichen Änderungen am Text konnte es also passieren, daß dieser nicht mehr in jedem Falle zum überlieferten Titel, welcher aber meist beibehalten wurde und als sogenannter tune titel fortbestand, passen musste. Der tune titel, meist an einen sehr alten und/oder bekannten Text erinnernd, übernimmt so eine wichtige Wiedererkennungs-Funktion.
Beethoven, der Thomson mehrmals um die Liedtexte bat, wurde von diesem (in einem Brief vom 21. 12. 1812) mit der Überlieferungstradition konfrontiert durch den Hinweis, daß sich mehrere Texte noch in den Köpfen der Dichtenden befänden … Beethoven nahm diese Tatsache aber überaus konstruktiv auf, sah er sich doch darin in seiner kompositorischen Freiheit befördert. Allerdings griff Thomson auch etliche Male eigenmächtig während des sich anschließenden Korrekturprozesses in die Kompositionen ein, wobei Beethoven viele dieser Änderungen ›durchgehen‹ ließ, was aber zur Folge hat, daß seine Urheberschaft nicht immer zweifelsfrei an jeder Stelle des Notentextes sicher geklärt werden kann.
Die hier überlieferten Texte, mit denen die Kompositionen dann versehen wurden, dürfen aus oben genanntem Grunde als eine von mehreren möglichen Fassungen betrachtet werden. Weiterhin fand zwischen den britischen Sprachgebieten ein reger Austausch der Melodien statt, weshalb die Provenienz vieler dieser national songs als ursprünglich irisch, schottisch, walisisch und englisch in etlichen Fällen letztlich nicht eindeutig bestimmbar ist.
1818 veröffentlichte Thomson – ohne Opuszahl – die von Beethoven bearbeiteten Lieder in der Sammlung Scottish Airs V, welche insgesamt 30 Bearbeitungen enthält. Darunter befinden sich auch fünf von Haydn, bzw. unter seinem Namen veröffentlichte. Nach Drucklegung dieses Bandes schickte Thomson an Beethoven eine in Edinburgh angefertigte Flötenstimme, welche als Ersatz für die Violinstimme gedacht war und Teil eines weiteren, zweiten Stadiums dieser Bearbeitungen ist.
Der Musikverleger und Musikalienhändler Adolf Martin Schlesinger (1769–1838) schickte 1819 seinen Sohn Maurice Schlesinger (1798–1871) zu Ludwig van Beethoven, welcher diesem seine drei letzten Klaviersonaten, die Bagatellen, das »bei Anwesenheit des Herrn Schlesinger aus Berlin« komponierte Glaube und hoffe und die Schottischen Lieder, die dann bei Schlesinger als op. 108 (Beethoven wollte sie ursprünglich als op. 107 veröffentlichen) mit englischem und deutschem Text erschienen, überlies.
Again, my Lyre op. 108 Nr. 24, mit der Melodie von Mary’s dream und einem Text von William Smyth (1765–1849) bearbeitete Beethoven vor Mai 1815. Im Januar 1817 entstand Sally in Our Alley op. 108 Nr. 25. Die Melodie dieses Liedes entstammt nachgewiesenermaßen der englischen Ballade In London stands a famous pile (South-sea ballad), der Text ist von Henry Carey (1687?–1743). Come Fill, Fill, my Good fellow! op. 108 Nr. 13 mit dem tune title There’s three gude fellows ayont yon glen bearbeitete Beethoven im Februar 1817.
Auch hier stammt der Text ebenfalls von William Smyth. Die Texte dieser drei Lieder übersetzte Samuel Heinrich Spiker (1786–1858) ins Deutsche. Die Liedbearbeitung von Once more I hail thee WoO 152 Nr. 3 entstand 1810. Thomson schickte, nachdem eine vorhergehende Sendung verloren gegangen war, die Melodie zu diesem irischen Lied am 25. September 1809 in einem Konvolut von 43 Melodien an Beethoven. Nach etlichen Korrekturen erschien dieses Lied von insgesamt 29 Liedern im März 1814 im Band 1 der Select Collection of Original Irish Airs bei Thomson in Edinburgh und Thomas Preston in London. Der Text ist von Robert Burns (1759–1796) und wurde von Georg Heinrich Pertz (1795–1876) ins Deutsche übersetzt.
(2016/2019)