Brahms, Johannes (1833–1897)

Liebeslieder. Walzer op. 52 (1868)

für das Pianoforte zu vier Händen und Gesang

daraus:

 

1. Rede, Mädchen, allzu liebes

2. Am Gesteine rauscht die Flut

3. O die Frauen

4. Wie des Abends schöne Röthe

6. Ein kleiner, hübscher Vogel

8. Wenn so lind dein Auge mir

9. Am Donaustrande

11. Nein, es ist nicht auszukommen

12. Schlosser auf und mache Schlösser

15. Nachtigall, sie singt so schön

16. Ein dunkeler Schacht ist Liebe

»Bei Operntexten ist es die Regel, daß sie für die Musik geschrieben werden. Bei Liedtexten ist es umgekehrt. Sie liegen da und warten auf ihren musikalischen Erwecker. […]« Diese den Abschnitt Gedicht und Musik einleitenden Zeilen des Musik- und Kunsthistorikers Oscar Bie (1864–1938) in seinem 1926 im S. Fischer Verlag Berlin erschienenen Buch Das deutsche Lied mögen sinnbildlich für die Vertonungen der von Georg Friedrich Daumer (1800–1875) übersetzten und dessen Werk Polydora, ein weltpoetisches Liederbuch von 1855 zusammengestellten Dichtungen aus aller Welt Anwendung finden.

Der ,musikalische Erwecker‘ weit über fünfzig dieser heute fast vergessenen und selten gelesenen Gedichte war niemand geringeres als Johannes Brahms (1833–1897), welcher sie durch seine Vertonungen wohl sicher auch vor dem völligen Vergessen bewahrt(e). Nachdem Brahms schon einige Gedichte von Daumer vertont hatte (enthalten in op. 32, 46 und 47), schuf er im Sommer 1868 seine achtzehn Liebeslieder. Walzer für das Pianoforte zu vier Händen (und Gesang ad libitum) op. 52, wobei der Zusatz in Klammern von seinem Verleger Friedrich August Simrock (1837–1901) stammt und die Besetzung mit Vokalquartett oder Chor offen läßt. Daß diesem Entschluß auch diesbezügliche und darüber hinaus gehende Überlegungen von Brahms vorausgingen, offenbart sich in dessen Brief vom 28. August 1869 an Simrock:

»Über den Titel und die Heftordnung bin ich wenig im Reinen. Sie können ‘Liebeslieder’ streichen. Wollen Sie lieber ‘Walzer’ für das Pianoforte zu 4 Händen und in Parenthese (mit Gesang) oder (und Gesang ad lib.)? Oder meinen Sie, daß es genügt, wenn man bei Annoncen meldet, sie könnten ohne Gesang genossen werden? Es sieht wohl nicht gut aus.« Drei Tage später schreibt Brahms an Simrock: »Ich bitte, daß Sie keine Konfusion machen! Die Walzer müssen eben so erscheinen, wie sie da sind. […] Wer sie ohne Gesang spielen will, muß doch eben fürs erste aus der Partitur spielen. Durchaus dürfen sie fürs erste nicht ohne Singstimmen gedruckt werden. So müssen sie den Leuten vor die Augen kommen. Und hoffentlich ist das ein Stück Hausmusik und wird rasch viel gesungen. Sind Ihnen 2 oder 1 Jahr zu viel, so können wir sie im Lauf des Winters noch ohne Singstimme bloß für 4händiges Piano herausgeben. In einigen Walzern würden hier einige Takte gestrichen werden. Nur verderben Sie mir oder uns den Effekt nicht. Wären Sie nur hier bei den Proben gewesen! Später natürlich gern für 2 Hände.«

Die Stücke wurden auch damals schon mit Vokalquartett dargeboten, was sicherlich nicht zuletzt den technischen Anforderungen und einer guten Durchhörbarkeit geschuldet war. Brahms sah diese Besetzung wohl auch vor, wie aus einem auch Gestaltungsfragen erörternden Brief von Januar 1870 an Ernst Rudorff (1840–1916) zu entnehmen ist:

»Ich brauche nicht zu sagen, daß das Tempo eigentlich das des Ländlers ist: mäßig. Sonderlich die lebhaftern mäßig (c moll, a moll), die sentimentalern bitte nicht schleppend (Hopfenranke). […] Solo – nicht Chor, wie ich meine.«

 

Im Oktober 1869 wurden die Liebeslieder-Walzer bei Simrock in Berlin veröffentlicht. Eine der ersten Erwähnungen der Liebeslieder-Walzer ist uns bei Clara Josephine Schumann (1819–1896) überliefert und wiedergegeben im Buch: Clara Schumann | Ein Künstlerleben | Nach Tagebüchern und Briefen | von | Berthold Litzmann | Dritter Band | Clara Schumann und ihre Freunde | 1856–1896 | Mit zwei Bildnissen | Zweite Auflage | Leipzig | Druck und Verlag von Breitkopf & Härtel | 1909. Dort finden wir auf Seite 230 unter: Zweites Kapitel: Baden-Baden, Lichtenthaler Allee 14. 1863–73 folgenden Eintrag: »1869. Aus dem Tagebuch: ›Den 16. Juli. […] Johannes brachte mir am Anfang dieses Monats reizende Walzer zu vier Händen mit vier Singstimmen, abwechselnd zwei und zwei, zuweilen alle vier, nach sehr hübschen, meist volksthümlichen Texten … sie sind von ganz besonderem Liebreiz (auch sogar ohne den Gesang schon reizend) und spiele ich sie mit großer Freude …‹«

 

Im Jahr darauf, 1870, erfolgte nach Voraufführungen einzelner Lieder am 5. Januar im Kleinen Redoutensaal der Wiener Hofburg die erste öffentliche Aufführung des kompletten Zyklus – oder wie Brahms, der diesen Begriff zu vermeiden suchte, gesagt hätte: Boukets – mit Louise Dustmann-Meyer, Rosa Girzick, Gustav Walter und Emil Krauss statt. Am Klavier begleitet wurden sie von Johannes Brahms und Clara Schumann. Aus seinem Briefwechsel mit Simrock ist im Brief vom 5. Oktober 1869 von Brahms auch folgender Satz überliefert: »Übrigens möchte ich doch riskieren, ein Esel zu heißen, wenn unsere Liebeslieder nicht einigen Leute Freude machen.«

So gewannen die Liebeslieder-Walzer denn auch schnell an Popularität und auch eine spätere Aufführung mit Chor lobte Brahms als »musterhaft«. Der ausgesuchten Besetzung von Vokalquartett und Klavier zu vier Händen stellte Brahms später eine Fassung ohne Gesang für Klavier zu vier Händen gegenüber. Diese wurde am 14. November 1874 in Wien zum ersten Mal aufgeführt und 1875 als op. 52a erstmals veröffentlicht. Es existiert auch eine weitere Fassung mit einer Auswahl von Liedern mit Orchesterbegleitung von 1869/70, welche am 19. März 1870 in Berlin erklang und allerdings erst 1938 veröffentlicht wurde.

 

Dem großen Erfolg seiner Liebeslieder-Walzer ließ Brahms Neue Liebeslieder op. 65, auch für Vokalquartett und Klavier zu vier Händen 1874 in Wien komponiert und nachfolgend ebenso für Klavier zu vier Händen ohne Gesang bearbeitet (op. 65a), folgen. – Brahms wählte für seine Liebeslieder-Walzer op. 52 ausschließlich Gedichte aus dem zweiten Band von Polydora, welche dort mit Völkerstimmen in bunter Reihe. Fortsetzung. überschrieben sind.

 

Im Folgenden sind alle im heutigen Konzert erklingenden Lieder nach ihrer Herkunft und dementsprechend ihrem jeweiligen Abschnitt bei Daumer zugeordnet, wobei die römischen Zahlen in den Klammern sich auf die anstelle von Gedichttiteln verwendeten Nummern der Gedichte in Polydora beziehen.

Brahms weicht in seiner Komposition von der Reihenfolge bei Daumer ab und ordnet die Lieder später abweichend vom Autograph auch noch für den Erstdruck teilweise um.

Aus dem Abschnitt Russisch. erklingt 1. Rede, Mädchen, allzu liebes (XI.), wobei in der gedruckten Liedfassung die bei Daumer stehenden Anführungszeichen für die wörtliche Rede – in welcher das ganze Gedicht gehalten ist – fehlen.

Nachfolgend erklingen aus dem Abschnitt Polnisch. die Lieder 8. Wenn so lind dein Auge mir (IV.) und 11. Nein, es ist nicht auszukommen (VII.). Hier merkt Daumer in einer Fußnote an: »Die hier folgenden Nummern IV–VI gehören wieder dem Genre der russisch-polnischen Tanzlieder an, von denen wir schon in der russischen Sammlung einige Proben gegeben.«

Der nun folgende Abschnitt der Russisch-Polnischen Kleinigkeiten. ist bei Daumer in zwei Teile aufgeteilt und er schreibt eingangs in einer Fußnote zu diesem Kapitel: »Dergleichen Liederchen sind namentlich solche, die zu den Tanzbelustigungen der genannten Völker gehören. So haben die Kosaken zu ihren bewegteren Tänzen gewisse eigene Gesänge und Weisen, welche sie S ch ä u m e r, B r a u s e l i e d e r oder T a n z b r a u s e r nennen; ähnlicher Art sind die Tanzliederchen, welche von den polnischen Landleuten gedichtet und gesungen werden. […]«

Vertonungen aus Russisch-Polnische Kleinigkeiten. Erste Reihe. sind: 2. Am Gesteine rauscht die Flut (V.) und 15. Nachtigall, sie singt so schön (X.). Aus Russisch-Polnische Kleinigkeiten. Zweite Reihe. erklingen: 3. O die Frauen (V.), 4. Wie des Abends schöne Röthe (II.) und 12. Schlosser auf und mache Schlösser (VI.). Schließlich wendet Brahms sich auch den Gedichten aus dem Abschnitt Magyarisch. zu: 6. Ein kleiner, hübscher Vogel (XXIV.) und 9. Am Donaustrande (XXV.), in welchem die in der vierten Zeile genannten Zehn Riegel bei Brahms schon da zu zehn eiserne Riegel gesteigert werden, ganz so, wie dies bei Daumer erst in der nachfolgenden Zeile geschieht.

Abschließend erklingt aus diesem Abschnitt 16. Ein dunkeler Schacht ist Liebe (XV.). –

 

Für Brahms hatten Lied und Liedgesang zeit seines Lebens einen außerordentlich hohen Stellenwert. Was die Anzahl seiner komponierten Lieder angeht, kommt Siegfried Kross in seiner Geschichte des deutschen Liedes (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989) im Kapitel Johannes Brahms auf Seite 145 zu folgender Aussage: »Aus seiner Vorliebe für das Dialoglied hat Brahms bereits ab op. 20 die Konsequenz gezogen, zum echten Duett oder gar Quartett überzugehen, die bei ihm eine viel größere Rolle spielen als bei jedem anderen Liedkomponisten. Den 216 Sololiedern muß man also eigentlich noch die 20 Lieder für zwei und weitere 60 für vier Stimmen hinzuzählen. Da die letzteren aber kaum von den 48 Chorliedern stilistisch zu unterscheiden sind, wird man diese hinzurechnen müssen und kommt so auf ein Corpus von 344 Liedern bei Brahms, der damit der am stärksten zur Lyrik tendierende Komponist der Zeit war; nur in diesem Bereich scheinen für ihn Dialektik oder gar Dialog gestaltbar gewesen zu sein.«

(2018)